Polarforscher und Fotograf Sebastian Copeland reiste in die kleinste Gemeinde Nordgrönlands. Sein Ziel: Mit Bildern dokumentieren, was in vielen Jahren nicht mehr da sein könnte.
Nur mit Schlittenhunden, der jungen Filmemacherin Josefin Kuschela und einem Übersetzer begab sich Fotograf Sebastian Copeland im Mai 2022 auf den Weg in die abgelegene Gemeinde Qeqertat im Norden Grönlands.Knapp 66 Kilometer sind es von Qaanaaq nach Qeqertat über die vereiste Landschaft. Copelands Mission: Das Leben und die Traditionen der Einwohnenden mit seinen Bildern für die Ewigkeit festhalten. Mit seiner Arbeit möchte Copeland die Schönheit der Natur wertschätzen und das Bedürfnis schaffen, diese zu schützen.
Sebastian Copeland gibt uns in einem Interview exklusive Einblicke über seine Reiseerfahrungen nach Nordgrönland.
Letztes Frühjahr haben Sie sechs Wochen in Grönland verbracht. Mit welchem Ziel traten Sie Ihre Reise an?
Copeland: Auf dem grönländischen Eis habe ich im Laufe vieler Jahre einige meiner besten Polarerfahrungen gemacht. So wie 2010, als ich auf dem Inlandeis 2.300 km von Süd nach Nord auf Skiern zurückgelegt habe. Doch diesmal wollte ich eine Reise unternehmen, die sich nicht auf die sportliche Herausforderung der großen Entfernungen konzentriert, sondern auf zwei Aspekte des nordgrönländischen Lebens: das Eis und die Menschen.
Nach zwei Jahren mit pandemiebedingten Reisebeschränkungen, in denen die Arktis nicht zugänglich war, konnte ich nun endlich im Alleingang einige Wochen lang diese Landschaft bereisen und die riesigen Eisberge bewundern, die im arktischen Winter in den nördlichen Fjorden vom Eis eingeschlossen werden. Ich wollte aber auch die kleine Gemeinde Qeqertat besuchen, ein sehr abgelegenes Dorf mit 12 bis 20 Einwohnern, je nach Jahreszeit.
Mein Ziel war es, mir die Zeit zu nehmen, mit dem Eis zu interagieren und die dort lebenden Menschen zu porträtieren, um mehr über ihr Leben zu erfahren und darüber, wie sich der Klimawandel direkt auf sie auswirkt. Meine Arbeit sollte zum Zeugnis einer Gemeinschaft und Kultur werden, die es durch den voranschreitenden Wandel und äußere Einflüsse womöglich in Zukunft nicht mehr geben wird.
Meine Arbeit sollte zum Zeugnis einer Gemeinschaft und Kultur werden, die es durch den voranschreitenden Wandel und äußere Einflüsse womöglich in Zukunft nicht mehr geben wird.
Was ist Ihnen auf dieser Reise besonders aufgefallen?
Copeland: Ich empfinde es immer als Privileg, ganz alleine auf dem Eis zu sein. Je nach Jahreszeit erfordert das Meereis ein anderes Verhalten. Im Frühjahr ermöglichen mildere Temperaturen, den Fokus weniger auf das Überleben und mehr auf das Beobachten zu legen. Doch am intensivsten habe ich auf dieser Reise die gemeinsame Zeit mit den Inughuit von Qeqertat, den grönländischen Inuit, erlebt.
Dieses abgelegene Dorf, eines der nördlichsten in Grönland, liegt auf einer Insel in einem großen Fjord. Bis Anfang Juni ist dieser Fjord zugefroren. Qeqertat ist von der Außenwelt abgeschnitten – zumindest, was herkömmliche Kommunikationsmittel angeht: kein Internet, kein Handynetz, kein Fernsehempfang. Im ganzen Dorf gibt es nur ein Satellitentelefon für Notfälle. Im Winter sinkt die Zahl der Dorfbewohner auf zwölf (im Sommer steigt sie auf das Doppelte, wenn Fischer zu Gast sind).
Ich begegnete einem Mädchen namens Kulunnguaq (8), das im Dorf geboren wurde und dort aufwächst. Als eine andere Familie wegzog, wurde sie zum einzigen Kind im Dorf und ihr Schulunterricht gestrichen. Sie war sehr neugierig und folgte mir überall hin. (Mit der Schokolade, die ich ihr gab, hatte das sicher nichts zu tun.) Auf meinem Weg nach Qeqertat besuchte ich das größere Dorf Qaanaaq und begegnete dort einem Biologen, der ermittelte, in welcher Größenordnung POP (Persistent Organic Pollutants – langlebige organische Schadstoffe) in regionalen Speisen enthalten sind.
POP sind schlecht wasserlösliche krebserregende Stoffe, die nur sehr langsam abgebaut werden. In wärmeren Breiten gelangen sie ausgehend von landwirtschaftlichen oder industriellen Abflüssen zunächst in Fließgewässer. Doch sie sind so langlebig, dass sie im Fettgewebe von Fischen den Golfstrom hochwandern und dort über die Nahrungskette auch im menschlichen Körper landen. Babys nehmen die Schadstoffe mit der Muttermilch oder bereits durch die Nabelschnur auf, wenn die Mutter Fisch oder Robbenfleisch isst. Zu den möglichen gesundheitlichen Folgen zählen etwa Krebserkrankungen, eine Immunsuppression sowie kognitive und neurobehaviorale Funktionsstörungen.
Bei Kulunnguaq wurde eine Residualwirkung von POP nachgewiesen. Sie wurde davon krank, bekam Diabetes. Das ist bemerkenswert bei einem Kind, das sein ganzes Leben tausende Kilometer entfernt von den Orten verbracht hat, an denen diese Chemikalien in die Umwelt gelangen. Einem Kind, in dessen Ernährung kein Zucker und keine Transfette vorkommen. Mir ist dieses Phänomen auch in den nördlichen Gemeinden im kanadischen Nunavut-Territorium begegnet. Diese Beispiele sollten uns mit Blick auf unsere leichtfertigen Entscheidungen und deren zerstörerischen und häufig verborgenen Auswirkungen als Warnung dienen.
In den vergangenen dreißig Jahren haben Klimaentwicklungen dazu geführt, dass die saisonale Eisdecke immer kürzer geschlossen bleibt (...). In diesem Licht betrachtet ist der Klimawandel eine Bedrohung für die Kultur.
Was können wir von den Inughuit lernen? Welche Lehren können wir aus persönlicher und menschlicher Perspektive ziehen? Wie beeinflussen durch unsere Lebensweise ausgelöste klimatische Veränderungen das Leben dort?
Copeland: Wer in Qeqertat wohnt, ist wie in vergleichbaren indigenen Gemeinschaften rund um den Globus voll und ganz auf Selbstversorgung angewiesen. Sie jagen und fischen, wobei sie auch Hundeschlitten einsetzen, um über das Eis zu ihrer Beute zu gelangen: Das sind hauptsächlich Robben, aber auch Karibus, Narwale und Walrosse. Dazu einiges an Fisch und hin und wieder ein Eisbär.
Das Hundegespann ist auch ein Vorzeigeprojekt in Sachen Nachhaltigkeit: Die Hunde werden mit Robbenfleisch von der Jagd gefüttert. Sie pflanzen sich natürlich fort. Das Leben und Überleben der Inughuit ist extrem stark von dieser Schlittenhunde-Tradition geprägt. Doch in den vergangenen dreißig Jahren haben Klimaentwicklungen dazu geführt, dass die saisonale Eisdecke immer kürzer geschlossen bleibt. Somit konnte man immer weniger auf Hundeschlitten zurückgreifen, für deren Nutzung das Meereis tragen muss. Außerdem erschweren längere frostfreie Perioden die Lagerung von Nahrungsmitteln.
Bisher konnte man sich schlicht auf niedrige Außentemperaturen verlassen und benötigte keine elektrische Kühlung. In diesem Licht betrachtet ist der Klimawandel eine Bedrohung für die Kultur. Gleiches gilt für die zunehmende Abhängigkeit von mechanischen Fortbewegungsmitteln, die Wartung und Treibstoff erfordern. Die traditionelle Tauschwirtschaft wird so an ihre Grenzen gebracht und kann nicht mehr mit der von der dänischen Regierung unterstützten Währung Schritt halten.
Im hohen Norden haben freie Geldmittel aber keine Tradition und keinen angestammten Platz in der Kultur. Oft kommt mit ihnen auch der Missbrauch von Drogen und Alkohol. Das Land leidet außerdem immer stärker unter Abfallmassen, hauptsächlich Plastik. Je mehr sich die Nordhalbkugel erwärmt, desto gefragter sind Orte wie Grönland – ob beim Thema Bodenschätze, im Tourismus oder rund um alternative Lebenskonzepte. Eine 4.000 Jahre alte Kultur ist im Begriff zu verschwinden. Schlimmstenfalls könnte dies bereits in wenigen Jahrzehnten der Fall sein.
Was zieht Sie immer wieder nach Grönland?
Copeland: Eine Reise nach Grönland ähnelt einer Zeitreise. Die Bevölkerung dort nimmt westliche Einflüsse schon immer ganz bewusst und in jüngster Zeit immer stärker wahr. Doch Traditionen werden bewahrt. Sie sind fest in der Kultur verwurzelt und wirken auf westliche Besucher wie mich sehr fremd. Auch die Natur übt eine große Anziehungskraft aus: Nach der Antarktis befinden sich die größten Eismassen der Welt in Grönland, und dort sind sie besser zu erreichen als am südlichen Polarkreis.
Auf einem so großen Eisschild fühlt man sich wie in einer anderen Welt – einer binären Welt, die allein von Luft und Eis bestimmt wird. Da kommt schnell das Gefühl auf, der erste Mensch auf einem unbekannten Planeten zu sein. Oder auch der letzte Mensch auf der Erde. Auf dem Eis kommt es völlig willkürlich zu plötzlichen Wechseln zwischen einer tiefen endlosen Stille und heftigsten Stürmen. Zusammen mit der grenzenlosen Leere bietet diese Atmosphäre die perfekte Mischung, um voll und ganz in die eigene Gedankenwelt zu versinken. Solch ein Nichts fehlt uns in den niederen Breiten. Wir suchen es, wenn wir unseren Gedankenfluss beruhigen möchten. In Grönland findet man diese Leere.
Seit über 25 Jahren reisen Sie zu den kältesten Orten des Planeten. Wie empfinden Sie die Expeditionen dorthin?
Copeland: Ich denke, das „Wie“ ist vielleicht nicht so wichtig wie das „Warum“. Beim „Wie“ geht es vor allem um eine gute Planung. Mit der Vorbereitung steht und fällt der angenehme und sichere Verlauf einer Expedition. Wir müssen die Naturgewalten respektieren und die eigenen Grenzen ehrlich einzuschätzen wissen. Die Natur ist immer stärker, und das Eis wird diese Angelegenheit schnell entscheiden. Danach geht es um Entschlossenheit und darum, immer weiterzumachen.
Als Nansen Grönland 1888 erstmals von Ost nach West durchquerte, verbrannte er direkt nach der Landung die Beiboote. Er wollte nicht in Versuchung kommen können, sich zur Umkehr zu entschließen. Doch beim „Warum“ geht es darum, dass du außerhalb deiner Komfortzone das Beste in dir zum Vorschein bringst. Ich sage immer gerne, dass das Beste in uns dann zu Tage tritt, wenn unsere Seele in Gefahr schwebt. Wer in entlegenen Gebieten allein unterwegs ist, muss innerlich und äußerlich in Alarmbereitschaft sein. Es gibt praktisch keine äußeren Ablenkungen, sodass sich die Verbundenheit mit der Natur besonders spirituell und erhaben anfühlt. Man steht so eng und direkt im Austausch mit der Natur, dass man kaum anders kann, als sich ihrer Grundrechte bewusst zu werden. Wer das Land durchwandert, wird unweigerlich für seine Interessen kämpfen.
Welche Rolle spielt die Fotografie bei Ihren Expeditionen?
Copeland: Das Fotografieren ist für mich in diesem Austausch ein starkes Werkzeug. Besonders angesichts der heute verfügbaren technischen Möglichkeiten entstand die These: Wenn du kein Foto davon hast, ist es auch nicht passiert. Mit der modernen Technik lässt sich diesem Argument so viel leichter begegnen. Aber für mich erfüllt das Fotografieren dieser Orte zwei Hauptzwecke. Zum einen zeugen die Bilder von den tatsächlichen Begebenheiten. Sie erlauben mir, an Orte zurückzukehren, an die mich meine Erinnerung allein nicht mehr führen könnte. Die kleinen Besonderheiten einer Umgebung fallen mir vor Ort nicht unbedingt ins Auge.
Vielmehr spielt das Sichten und Neu-Entdecken eine entscheidende Rolle in der Fotografie, insbesondere dank der gestiegenen Speicherkapazitäten für Aufnahmen. Außergewöhnliche Objektive, wie solche von ZEISS, bringen Details zum Vorschein, die sich bequem von zu Hause aus weiter erkunden lassen. Das ist dann augenscheinlich dieselbe Form der Entdeckung, wie andere sie auch beim Betrachten der Bilder erleben, wenn ich diese teile. Für mich ist das Recht und Pflicht zugleich. Wer derartige exotische Motive festhält, ob nun das Eis oder die indigene Bevölkerung, trägt eine besondere Verantwortung.
Die Kamera ist für mich auch ein Instrument zur Verbreitung von Ideen. In diesem Fall geht es darum, dass wir wieder eine Verbindung zur Natur aufbauen, unser Bewusstsein schärfen für die Auswirkungen unseres Verhaltens auf die Umwelt. Ich möchte dafür sensibilisieren, dass selbst an so entlegenen und isolierten Orten wie der Nordküste Grönlands die Zerstörung, die wir mit unserer industriellen Entwicklung hervorrufen, spürbar und sichtbar ist. Unter diesen Umständen visuell Geschichten zu erzählen ist von besonderer Bedeutung.
Können Sie drei Dinge nennen, die Sie während dieser Expedition oder im Umgang mit den Menschen besonders inspiriert haben oder die Ihnen im Gedächtnis geblieben sind?
Copeland: Bei meiner Ankunft in Qaanaaq, einem größeren Dorf im Norden Grönlands (Anzahl der Einwohnenden: 600), feierten gerade zwei Jugendliche Erstkommunion. Christliche Missionare haben hier ganze Arbeit geleistet und in den nördlichen Gemeinden die Botschaft des Herrn verbreitet. Doch gefeiert wird, wie am Geburtstag, in der Form, dass das ganze Dorf seine Türen öffnet und besondere Speisen miteinander teilt. In manchen Fällen war das Festtagsessen zuvor bis zu ein Jahr lang im Boden vergraben.
Besonders beliebt ist fermentiertes Robbenfleisch mit rohen Krabbentaucher-Eiern, dazu rohes Walfleisch und gebratener Eisbär. Zugegebenermaßen darf man dabei nicht zimperlich sein, denn rohes Fleisch ist eine recht blutige Angelegenheit. Die Fleischstücke werden aus dem Boden geholt. Sie befinden sich auf Pappunterlagen. Stundenlang wird das Fleisch dann von den Gästen jeden Alters mit Messern und den bloßen Händen auseinandergenommen.
Noch erwähnenswerter finde ich aber den Gedanken des Teilens. Alle sind eingeladen. Diese Mentalität begegnete mir auch, als ich Qeqertat besuchte. Bei meiner Ankunft klopfte ich an die erstbeste Tür und wurde hereingebeten. Die Familie aß gerade ein Schmorgericht aus Karibufleisch. Ich durfte mich dazusetzen, bekam eine Schale mit Essen vorgesetzt. Und das, obwohl wir kaum ein Wort wechselten. Meine Begegnung mit Kulunnguaq, dem achtjährigen Dorfmädchen, war natürlich einer der Höhepunkte meiner Reise. Ihr Mangel an Spielzeug hat mich beeindruckt und in mir den Wunsch geweckt, etwas von dem Überfluss zu teilen, der die Kinderzimmer meiner beiden Töchter füllt. Jedoch verflog dieser Wunsch schnell, als ich bemerkte, dass sie deswegen nicht unglücklicher zu sein schien.
Einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat vor allem auch die Natur selbst, in all ihrer Größe und Zeitlosigkeit. Die gigantischen Fjorde mit mächtigen Klippen, die schroff zum vereisten Meer abfallen. Wie klein ich mich gefühlt habe angesichts dieser Dimensionen. Wie belanglos wir Menschen und unsere Existenz dort erscheinen. Und die Einsicht, dass die Landschaft dort längst so aussah, als wir auf der Bildfläche erschienen. Und uns, größtenteils unverändert, noch lange überdauern wird.
Meine Begegnung mit Kulunnguaq, dem achtjährigen Dorfmädchen, war natürlich einer der Höhepunkte meiner Reise. Ihr Mangel an Spielzeug hat mich beeindruckt und in mir den Wunsch geweckt, etwas von dem Überfluss zu teilen, der die Kinderzimmer meiner beiden Töchter füllt. Jedoch verflog dieser Wunsch schnell, als ich bemerkte, dass sie deswegen nicht unglücklicher zu sein schien.
Bewusstsein schaffen
Copeland ist einer der wenigen, der die Auswirkungen des Klimawandels auf das Polareis aus erster Hand bereits gesehen hat. Mit seinen Dokumentationen möchte er darauf aufmerksam machen, welche Auswirkungen das westliche Leben auf die Natur und damit auch andere Menschen und deren Existenz hat. Seine Hoffnung: Dass die Vorstellungskraft der Menschen und die praktischen Alltagsanwendungen, die sie sich in Landwirtschaft, Technologie, E-Mobilität und mehr ausdenken, zur Regeneration beitragen. Auch jede Einzelperson kann etwas bewirken, indem für Menschen gestimmt wird, die etwas verändern wollen und der eigene Fußabdruck so weit wie möglich reduziert wird.
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Sebastian Copeland nutzt seine Kamera als Werkzeug, um den Klimawandel zu dokumentieren. ZEISS unterstützt Sebastian Copeland bei seinen Expeditionen. Sebastian Copeland verwendete folgende Kameraobjektive: Milvus 18mm f/2.8; Milvus 25mm f1.4; Milvus 35mm f/1.4; Otus 55mm f/1.4; Otus 85mm f/1.4
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Das Interview wurde sinngemäß aus dem Englischen übersetzt. Einige Formulierungen können abweichen.