Der demografische Wandel mit einer zunehmend alternden Gesellschaft und Ärztinnen und Ärzten im Hamsterrad mit immer weniger Zeit für die Patientinnen und Patienten schreit nach Lösungen. Mit Leidenschaft und Innovationsgeist forschen Eleonora Tagliabue und Daniel Reichard vom ZEISS Innovation Hub @ KIT an Medizinrobotern für die Mikrochirurgie und die Augenheilkunde mit dem Ziel, Chirurginnen und Chirurgen dabei zu unterstützen, die Präzision der Eingriffe erhöhen zu können und damit eine hochwertigere Behandlung betroffener Menschen zu ermöglichen. In einem stimulierenden Umfeld mit enger Anbindung an das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) treiben die Beiden mit viel Herzblut Innovationen voran und nehmen bewusst das Risiko in Kauf, auch einmal in die falsche Richtung abzubiegen – nur so aber kann Bahnbrechendes entstehen, das das Leben der Menschen nachhaltig verbessert.
Das Gesundheitssystem ist überlastet, Ärztinnen und Ärzte haben immer weniger Zeit für immer mehr Patientinnen und Patienten: Der vielzitierte Fachkräftemangel trifft auf eine zunehmend alternde Gesellschaft. Was aber, wenn Chirurginnen und Chirurgen in Teilschritten von Operationen von Robotik unterstützt werden könnten? Genau hier setzen Dr. Eleonora Tagliabue, Forschungsgruppenleiterin für Medizinische Robotik und Assistenzsysteme, und Dr. Daniel Reichard, Senior Researcher, in ihrer täglichen Forschungsarbeit an. Sie verbindet ein gemeinsames Ziel: Mit ihrer Forschungsarbeit wollen sie im Bereich der medizinischen Robotik einen direkten Einfluss auf das Leben und das Wohl von Menschen nehmen.
Viele Wege führen nach Karlsruhe
Dr. Eleonora Tagliabue stammt aus Italien und studierte in Mailand und Chicago Biomedizintechnik, bevor sie an der University of Verona ihre Promotion im Bereich Informatik ablegte. Als neugierige Person hat sie die für sie perfekte Schnittstelle zwischen Engineering bzw. Technik auf der einen und dem Gesundheitsbereich auf der anderen Seite entdeckt.
Sie genießt nicht nur den Austausch mit Chirurginnen und Chirurgen ebenso wie mit Menschen aus dem Ingenieurswesen, sondern hat hierdurch auch ihre Fähigkeit erkannt, eine moderierende Rolle zwischen diesen häufig nur schwer miteinander in Einklang zu bringenden Disziplinen einzunehmen. Bereits in der letzten Phase ihrer Universitätslaufbahn entdeckte Tagliabue ihre Leidenschaft für Robotik. Der Wechsel an den ZEISS Innovation Hub in Karlsruhe war für sie die logische Konsequenz.
Dass er sich beruflich am richtigen Ort befindet, dessen ist sich auch Dr. Daniel Reichard bewusst. Wie für Tagliabue ist auch für ihn die Kombination zweier wissenschaftlicher Fachrichtungen von immenser Bedeutung: Nach einem Studium der Informatik kam er bereits im Rahmen seiner Diplomarbeit mit medizintechnischen Fragestellungen in Berührung, genauer: mit der softwareunterstützten Bildgebung in der Chirurgie.
Durch seine Mitwirkung am Human Brain Project arbeitete er sich in die Neurorobotik ein. So war der Weg in die Medizinrobotik für ihn quasi vorgezeichnet. Mittlerweile ist Reichard als Experte im Bereich Robotik und Machine Learning aktiv – wie Tagliabue am ZEISS Innovation Hub in Karlsruhe.
Die Zukunft der Medizin-Robotik: Wie kann Automatisierung Chirurginnen und Chirurgen unterstützen?
Dr. Tagliabue und Dr. Reichard über ihre Forschungsarbeit
Am Ende muss immer das Wohl der Menschen und damit die konkrete Nutzbarmachung der Forschung, beispielsweise eben durch medizinische Roboter, im Fokus unserer Arbeit stehen.
4 Fakten zur Zukunft der Medizin-Robotik
ZEISS Innovation Hub @ KIT: State-of-the-art-Forschung in inspirierendem Umfeld
Der ZEISS Innovation Hub befindet sich auf dem Campus des Karlsuher Institut für Technologie (KIT) und ist damit eingebettet in ein kreatives und inspirierendes Ökosystem aus aufstrebenden Start-ups und etablierten Akteuren. Gemeinsam mit dem KIT führt das Team Forschungsprojekte durch, organisiert Vorträge und betreibt einen Makerspace. Immer verbunden mit dem Ziel, die Forschung von heute in Anwendungen von morgen zu überführen.
„Der interdisziplinäre Austausch auf Augenhöhe mit Koryphäen auf den jeweiligen Gebieten ihrer Wissenschaften ist absolut gewinnbringend für die Forschungsarbeit: Hast du eine konkrete Frage, bekommst du fast immer automatisch auch eine wertvolle Antwort,“ schätzt Tagliabue insbesondere den Austausch mit den Professorinnen und Professoren des KIT.
Reichard hebt zusätzlich die praxisnahe Arbeit im Vergleich zu einem reinen Forschungslabor hervor. Konkret: die enge Verbindung zur Medizintechniksparte von ZEISS und damit die im Hintergrund immer mitschwingende geschäftliche Perspektive auf die Forschung: „Vor allem die Zusammenarbeit mit Applikationsexpertinnen und -experten sowie Kolleginnen und Kollegen aus dem Ingenieurwesen zeigt einem immer wieder, dass Forschungsarbeit nur der Forschung wegen nicht zielführend ist. Am Ende muss immer das Wohl der Menschen und damit die konkrete Nutzbarmachung der Forschung, beispielsweise eben durch medizinische Roboter, im Fokus unserer Arbeit stehen.“
Das Wohl der Patientinnen und Patienten im Blick
Woran genau forschen Tagliabue und Reichard aber eigentlich? Hierzu ein kleiner Exkurs: Beim Grauen Star (Katarakt)5 wird die menschliche Augenlinse allmählich trübe – meist als Folge der natürlichen Alterung. Die einzige wirksame Behandlungsmöglichkeit ist eine Operation. Dabei wird die eingetrübte Linse entfernt und durch eine neue, künstliche Linse ersetzt. Die meisten dieses Standardeingriffs verlaufen ohne Komplikationen.
Dennoch können manchmal Entzündungen des Augeninneren aufgrund von Verunreinigungen, Verletzungen der Iris oder des Augapfels, Blutungen oder Wundheilungsstörungen auftreten. Eine durch Robotik beziehungsweise durch verschiedene Assistenzsysteme für Mikrochirurgie und Augenheilkunde unterstützte Operation kann helfen, das Auftreten dieser Nebenwirkungen zu minimieren.
„Beispielsweise können Roboter dazu beitragen, die Präzision und Wiederholbarkeit von Eingriffen zu verbessern – hier spielt zukünftig die Integration von Automatisierungsfunktionen in die Robotersysteme eine wichtige Rolle“, erklärt Tagliabue. In der Folge können sich Chirurginnen und Chirurgen auf die kritischeren Phasen eines Eingriffs und das Treffen qualitativ hochwertiger Entscheidungen fokussieren. Einfachere und routinemäßige Aufgaben werden an Roboter „ausgelagert“.
Und manchmal können Roboter sogar mehr als es hochqualifiziertes medizinisches Fachpersonal zu leisten imstande ist. Eine Vielzahl an medizinischen Interventionen wäre ohne den Einsatz von Robotiklösungen schlicht unmöglich. Ein konkretes Beispiel ist die Mikrochirurgie. Reichard: „In bestimmten Bereichen stößt der menschliche Körper an seine Grenzen. Automatisierte Lösungen könnten beispielsweise dabei unterstützen, Eingriffe noch präziser zu machen, wie etwa das Eindringen mit einem Skalpell in eine bestimmte Hautschicht.“
Immer einkalkuliert: Scheitern als wichtiger Bestandteil von Forschung
Tagliabue und Reichard bereitet die Arbeit am ZEISS Innovation Hub große Freude, sie brennen förmlich für ihre Arbeit. Dabei sind es gerade die großen Herausforderungen, die sie zu Höchstleistungen antreiben. Laut Tagliabue bedarf es im Bereich der Medizin-Robotik der Identifikation von Funktionalitäten oder Workflows, die auf eine Vielzahl an Menschen und damit potenziellen Patientinnen und Patienten angewendet werden können: „Leider funktioniert ’one fits all’ in diesem Bereich nicht. Es bedarf adaptiver Modelle, die sich an die jeweilige menschliche Anatomie anpassen können. Auch die Sensorik und das Erkennen individueller Gegebenheiten spielen eine große Rolle. Das ist eine der größten Herausforderungen in unserem Beruf.“
So glücklich die beiden Forschenden auch über kleinere Fortschritte sind, so sehr gehört das Scheitern auch dazu und muss immer einkalkuliert werden. Während beispielsweise Ingenieurinnen und Ingenieure bei der Weiterentwicklung von technischen Funktionen in der Regel auch ein verbessertes, funktionierendes Produkt erhalten, das anschließend vermarktet werden kann, besteht die Herausforderung von Tagliabue und Reichard darin, in die weite Zukunft zu blicken, in visionären Szenarien zu denken und Konzepte zu entwickeln. Und damit auch ein Stück weit ins Ungewisse zu arbeiten.
„Wir können natürlich nicht immer alles richtig vorhersehen. Manchmal gehen wir auch als Forschende in die falsche Richtig und benötigen deshalb von Zeit zu Zeit eine hohe Frustrationstoleranz. Hier hilft mir dann oftmals der Spruch aus meinen Uni-Zeiten, dass es gar keine Forschung wäre, wenn wir nicht auch scheitern dürften“, erzählt Reichard lächelnd.
Wie sieht das Übermorgen in der Medizinrobotik aus?
Während es bei Operationen Fortschritte in der Automatisierung und der Übernahme einzelner standardisierter Prozessschritte durch Roboter zu verzeichnen gibt, ist eine vollständige Operation von Patientinnen und Patienten ohne jedes menschliche Zutun ausgeschlossen.
„Chirurginnen und Chirurginnen werden auch weiterhin die Planung, Umsetzung und Überwachung von Operationen verantworten – allerdings werden sie in Zukunft von medizinischen Robotern unterstützt werden, die anstrengende, präzise oder ermüdende Tätigkeiten ausführen werden. Zum Wohl der Patientinnen und Patienten, die von einem qualitativ hochwertigeren Operationsergebnis profitieren“, betont Tagliabue.
Im Fokus: Robotik in der Medizin
-
Medizinische Roboter dienen der Unterstützung von Ärztinnen und Ärzten bzw. Chirurginnen und Chirurgen. Während diese immer die Verantwortung für die gesamte Operation haben und sich auf kritische Phasen eines Eingriffs fokussieren, könnte in der Zukunft medizinische Robotik möglicherweise bei einzelnen und routinemäßigen Aufgaben unterstützen, sofern die natürlichen Fähigkeiten medizinischen Fachpersonals an ihre Grenzen kommen.
-
Das Gesundheitssystem ist überlastet, Ärztinnen und Ärzte haben immer weniger Zeit für immer mehr Patientinnen und Patienten: Der vielzitierte Fachkräftemangel trifft auf eine zunehmend alternde Gesellschaft. Medizinische Roboter könnten in Zukunft möglicherweise Chirurginnen und Chirurgen in ihrer Arbeit unterstützen, indem sie einfache und routinemäßigen Aufgaben während einer Operation übernehmen. Dadurch könnten sie den Ärztinnen und Ärzten ermöglichen, den Fokus auf kritische Phasen einer Operation sowie das Treffen qualitativ hochwertiger Entscheidungen zu legen.
-
Medizinrobotik wird immer eine assistierende Funktion haben und Chirurginnen und Chirurgen bei der Übernahme von routinemäßigen Aufgaben unterstützen. Eine vollautomatisierte Operation ohne Menschen in der finalen Verantwortung ist zum heutigen Zeitpunkt nicht vorstellbar.
- 1
- 2
-
3
Recent advances in robot-assisted surgical systems - ScienceDirect
- 4
-
5
Grehn F. (2019). Augenheilkunde. 32. Auflage S. 203-224.