Prof. Dr. Nassir Navab
ZEISS Beyond Talks

Interview mit Prof. Dr. Nassir Navab

Prof. Dr. Nassir Navab leitet den Lehrstuhl für Informatikanwendungen in der Medizin & Augmented Reality an der Technischen Universität München. Mit seiner wegweisenden Forschungsarbeit möchte er medizinisches Personal in die Lage versetzen, bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten ihr gesamtes Wahrnehmungsspektrum nutzen zu können.1

Seit über 175 Jahren stellt man sich bei ZEISS die Frage: Wie können wir die Grenzen der Vorstellungskraft herausfordern? Diese Vision war für ZEISS der Anlass, in der Gesprächsreihe ZEISS Beyond Talks den Austausch mit Vordenkern und führenden Intellektuellen aus der ganzen Welt zu suchen und mit ihnen über ihre Arbeit, ihre Visionen, ihre Leidenschaften und aktuelle Fragen im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung unserer Welt zu sprechen.

Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Sicht auf die Medizin und wie Sie zu diesem Fachgebiet gekommen sind.

Die Medizin reizt mich, weil sie an der Schnittstelle der drei Forschungsbereiche Grundlagenforschung, translationale Forschung und radikale Innovationsforschung liegt.

Die Grundlagenforschung stellt sicher, dass wir die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Technologien nutzen. Um nicht in unserem Elfenbeinturm zu verharren, brauchen wir die translationale Forschung, die sich mit den Auswirkungen unserer Forschungsarbeit auf die Gesellschaft beschäftigt. Die radikale Innovationsforschung dagegen entwickelt disruptive Ideen und ergründet gänzlich neue Lösungsansätze. Durch meine Arbeit im Bereich der Medizin habe ich das Privileg, in allen drei Bereichen forschen zu können.

Als ich 1994 im kanadischen Ontario zum ersten Mal in einem OP stand, war ich völlig fasziniert von der Tatsache, dass Ärztinnen und Ärzte wichtige Entscheidungen bei Gehirnoperationen mithilfe von Technologie treffen. Ich wusste sofort, dass ich hierzu meinen Beitrag leisten wollte. Dieser Bereich fordert mich immer wieder neu heraus.

Welche Bedeutung hat Augmented Reality für die Zukunft der Medizin?

Augmented Reality bedeutet im Wesentlichen eine Erweiterung unserer Wahrnehmung.

Wenn wir heute mit dem Auto rückwärtsfahren, hören wir zum Beispiel einen Piepton, der sich ändert, je näher wir dem Objekt hinter uns kommen. Das ist eines der einfachsten Beispiele für die Erweiterung unserer Wahrnehmung. Indem wir den Abstand hinter dem rückwärtsfahrenden Auto um eine akustische Dimension ergänzen, können wir eine zusätzliche Sinnesinformation wahrnehmen, die wir sonst nicht hätten.

Übertragen auf den Bereich der Medizin kann das zum Beispiel heißen, dass wir wahrnehmen, wie das Blut in einem Gefäß fließt. Dass wir erkennen, dass ein Tumor einen stark erhöhten Sauerstoffbedarf hat, also sehr bösartig ist. Oder dass wir sehen, dass sich eine bestimmte Anatomie physiologisch nicht so verhält, wie sie sollte.

Das ist ein sehr komplexes Themenfeld, welches aber das Leben vieler Menschen – auch das der eigenen Eltern oder Kinder – beeinflussen kann. Das gibt einem ein gutes Gefühl.

Wie wird Augmented Reality in der Medizin eingesetzt werden?

In der Medizin verwenden wir bereits eine Vielzahl von elektronischen und physischen Sensoren, die Daten über die Physiologie des Körpers liefern.

Wenn wir den Ärztinnen und Ärzten all diese Informationen zum Beispiel in Form von Röntgenbildern, CT- oder PET-Scans zur Verfügung stellen, müssten sie sich etwa 12 Bildschirme gleichzeitig ansehen. Es ist aber schlicht nicht möglich, so viele Displays zu berücksichtigen und darauf aufbauend eine schnelle Entscheidung zu treffen. Medizinisches Personal hat häufig nur drei bis fünf Minuten, um eine Entscheidung zu treffen, während eines Eingriffs sogar noch weniger.

In der medizinischen Anwendung wandelt Augmented Reality diese Daten im Wesentlichen so um, dass wir sie mit unseren Sinnessystemen wahrnehmen können. Indem wir diese Fülle von Informationen in einer virtuellen Darstellung des Körpers zusammenführen, kann die Ärztin oder der Arzt unter Einsatz der Sinne – durch Sehen, Hören, Berühren und Fühlen – zur richtigen Entscheidung kommen.

Prof. Dr. Nassir Navab

Es ist eine anerkannte Tatsache, dass wir in der Medizin heute nicht Patientinnen und Patienten behandeln, sondern Krankheiten.

Prof. Dr. Nassir Navab Technische Universität München

Was würde solch eine Transformation für die medizinische Versorgung im Alltag bedeuten?

Es ist eine anerkannte Tatsache, dass wir in der Medizin heute nicht Patientinnen und Patienten behandeln, sondern Krankheiten. Das heißt, wir ordnen ein gesundheitliches Problem einer Krankheit zu, für die wir eine Behandlung haben. Wir haben keine Behandlung für die individuelle Person.

Aber jede und jeder von uns unterscheidet sich zum Beispiel in der Anatomie, Ernährung und den täglichen Lebensgewohnheiten, sodass diese krankheitszentrierte Kategorisierung im Endeffekt bedeutet, dass nicht jede Person die für sie beste Behandlung erhält. Durch Computerisierung und Zugang zu persönlichen Informationen – wie die Physiologie des Körpers, der persönliche Hintergrund oder die Krankheitsgeschichte – könnten wir mithilfe unserer Systeme Behandlungen und Lösungen anbieten, die auf das Individuum zugeschnitten sind.

Das hätte erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung, da wir damit die Person behandeln würden, und nicht die Krankheit.

Können Sie sich vorstellen, dass Augmented-Reality-Technologie auch in der medizinischen Ausbildung eingesetzt wird?

Absolut. Wir sollten Augmented-Reality-Systeme bereits im Kindergarten oder in den Schulen einsetzen! Aber bei der medizinischen Ausbildung brauchen wir diese Systeme tatsächlich besonders dringend.

Die Frage ist, ob unsere Technologie es einer jungen Ärztin oder einem jungen Arzt in der Ausbildung ermöglichen kann, 100 virtuelle Eingriffe durchzuführen – unter Einsatz aller Sinne – und dabei genügend Feedback und Lernerfahrungen zu bekommen, um die erste reale Operation durchführen zu können. Das müssen wir erforschen.

Inwiefern sollte die Öffentlichkeit Ihrer Ansicht nach über diese Technologien aufgeklärt werden?

In den vergangenen 30 Jahren wurden viele Bereiche unserer Gesellschaft demokratisiert, so auch der Zugang zu wissenschaftlichen Informationen. Wir haben heute nicht nur Wikipedia, auch großartige Vorlesungen von namhaften Universitäten wie Stanford, MIT und Oxford sind öffentlich zugänglich. Auch viele Technologien wurden demokratisiert, beispielsweise Navigation und Videokommunikation.

Aber was wir auf globaler Ebene noch nicht haben, ist eine Demokratisierung der Medizin. Meiner Meinung nach sind die Unterweisung und Aufklärung über diese neuen Technologien ein Teil dieser Demokratisierung und werden dazu beitragen, dass wir in Zukunft weniger Krankheiten haben.

Der zweite Teil der Demokratisierung ist, die Technologie verfügbar zu machen. Wäre es zum Beispiel nicht großartig, wenn Sie ein Handyfoto von Ihrem Auge machen könnten, und das System sagt Ihnen, ob Sie zur Behandlung des Grauen Stars einen Arzt oder eine Ärtzin aufsuchen sollten?

Das ist ein sehr komplexes Themenfeld, welches aber das Leben vieler Menschen – auch das der eigenen Eltern oder Kinder – beeinflussen kann. Das gibt einem ein gutes Gefühl.

Prof. Dr. Nassir Navab Technische Universität München

Wie wird die Medizin Ihrer Meinung nach in 100 Jahren aussehen?

Was mich begeistert, wenn ich an die nächsten 100 Jahre denke, sind Technologien, die komplett in unseren gesamten Lebenszyklus integriert werden können und uns vom Moment unserer Geburt bis zu unserem Tod begleiten.

Mein Traum ist, dass jeden Morgen, wenn Sie sich im Spiegel betrachten, eingebaute Sensoren Ihre Haut, Ihren Blutdruck und viele andere Werte messen. Die Sensoren zeichnen Ihre Werte auf und registrieren, wenn Sie gestresst sind oder wenn Sie sich nicht gesund ernähren. Diese Technologie würde ein Bestandteil Ihres täglichen Lebens werden.

Das erhoffe ich mir für die nächsten 100 Jahre: eine technologiegestützte Gesundheitsvorsorge, die uns vom ersten Tag unseres Lebens an begleitet.