Dr. Ulf Wilhelm entwickelt Software für Fahrerassistenzsysteme und Lösungen für automatisiertes Fahren bei der Robert Bosch GmbH. In seiner Position als Lead Architect Advanced Driver Assistance Systems möchte er die Fahrsicherheit steigern und ist überzeugt, dass der Trend zur höheren Automatisierung von Fahrzeugen starke Auswirkungen haben wird – und zwar bei Weitem nicht nur darauf, wie wir fahren.1
Seit über 175 Jahren stellt man sich bei ZEISS die Frage: Wie können wir die Grenzen der Vorstellungskraft herausfordern? Diese Vision war für ZEISS der Anlass, in der Gesprächsreihe ZEISS Beyond Talks den Austausch mit Vordenkern und führenden Intellektuellen aus der ganzen Welt zu suchen und mit ihnen über ihre Arbeit, ihre Visionen, ihre Leidenschaften und aktuelle Fragen im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung unserer Welt zu sprechen.
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Können Sie uns etwas über Ihren Werdegang erzählen?
Ich komme eigentlich aus der Physik, genauer gesagt aus der Quantenelektrodynamik. Da fragen Sie sich jetzt vielleicht, was mich von der Physik in die Automobilindustrie gebracht hat. In der Physik entwickeln wir Prognosemodelle und gleichen deren Vorhersagen mit realen Gegebenheiten ab. Das ist auch Teil meiner jetzigen Arbeit, bei der ich Modelle menschlicher Fahrerinnen und Fahrer entwickle und antizipiere, wie diese in der realen Welt reagieren.
Was hat Ihr Interesse an diesem Berufsfeld rund um Fahrerassistenzsysteme geweckt?
Einer der größten Anreize für mich ist die Vision, die Unfallzahlen dauerhaft zu senken. Mobilität bietet uns größte Freiheit, erlaubt es uns, alle möglichen Orte zu erreichen, aber wir zahlen dafür auch einen hohen Preis. Ich bin überzeugt davon, dass wir diesen Preis senken müssen.
Passive Sicherheitsmaßnahmen wie Airbags spielen dabei eine wichtige Rolle, werden aber allein nicht ausreichen. Die Wende bringen erst intelligente Fahrzeuge – insbesondere der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI). Von den Fortschritten in diesem Bereich verspreche ich mir einen deutlichen Rückgang der Unfallzahlen.
Wie würden Sie ein Fahrerassistenzsystem beschreiben?
Im Zentrum eines Fahrerassistenzsystems steht ein künstlicher Fahrer. In unterschiedlichen Fahrszenarien ermittelt das System sinnvolle Maßnahmen. Hierzu nutzt es zahlreiche verschiedene Sensoren wie Radar- und Kamerasysteme zur Erfassung der Umgebung. Das System nimmt die Umgebung wahr, analysiert sie und handelt entsprechend.
Einer der größten Anreize für mich ist die Vision, die Unfallzahlen dauerhaft zu senken.
Worin bestehen Herausforderungen bei der Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen?
Eine Kamera erzeugt eine große Matrix von Pixeldaten in einem zweidimensionalen Zahlenfeld. Die erste große Herausforderung ist also das Erkennen von Objekten in diesem Feld – der Transfer von 1.000.000 Messwerten zur Erkenntnis, dass sich rechts ein Fußgänger befindet, der die Straße überqueren möchte. Menschen fällt das leicht, schon Dreijährige können es. Doch die Entwicklung eines Algorithmus, der dazu in der Lage ist, erfordert eine aufwendige Datenverarbeitung und hochmoderne KI.
Nachdem wir die Akteure in einer Fahrsituation identifiziert haben, muss es uns gelingen, ihr Verhalten in den nächsten Sekunden vorherzusagen. In einer offenen Umgebung wie unserer Welt ist dies besonders kompliziert – es gibt unzählige Szenarien und wir können unmöglich alle potenziellen Reaktionen durchspielen. Außerdem begrenzt die Rechenleistung die Anzahl der Optionen, die in Echtzeit analysiert werden können.
Darüber hinaus muss diese Analyse etwa 20 bis 100 Mal pro Sekunde durchgeführt werden, damit sicheres Fahren möglich ist.
Wie trainieren Sie die Software, damit sie richtige Vorhersagen treffen kann?
Die Algorithmen an sich sind hoch komplex. Wir sprechen hier von Millionen und Milliarden von Parametern, die den Lernalgorithmus definieren. Neuronale Netze erkennen Muster, die wir selbst nicht sehen. Beim maschinellen Lernen (ML) werden auf Basis großer Datenmengen Verhaltensmuster ermittelt, sodass der Algorithmus auf sehr komplexe Signale reagieren und das Verhalten von anderen Verkehrsteilnehmenden vorhersagen kann.
Was sind die verschiedenen Stufen des automatisierten Fahrens?
Beim automatisierten Fahren werden fünf Stufen unterschieden. Stufe 1 umfasst Grundfunktionen wie Brems- und Spurhalteassistenten. Letztendlich angestrebt wird Stufe 5, bei der das System keinerlei Einschränkungen unterliegt. Zum Erreichen von Stufe 5 muss nachgewiesen werden, dass das System zum autonomen Fahren sicherer ist als menschliche Fahrerinnen und Fahrer, da es die volle Verantwortung für die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden übernimmt.
Der Sicherheitsaspekt steht an erster Stelle, insbesondere bei Systemen, die autonome Brems- oder Steuerfunktionen umfassen. Unsere Aufgabe ist es, ein großes Entwicklungsteam – mehr als 10.000 Beteiligte – so zu organisieren, dass bei der Entwicklung, Prüfung und Validierung dieser sicherheitskritischen Systeme eine optimale Zusammenarbeit möglich ist. Es ist erforderlich, effiziente Lernschleifen zu etablieren und sicherzustellen, dass sich das System an unterschiedliche Fahrumgebungen und -szenarien anpassen kann.
Wie verändert sich die Soft- und Hardware-Umgebung?
Wir arbeiten derzeit an der Integration zahlreicher Steuergeräte in den Fahrzeugen. Aktuell umfasst ein typisches Fahrzeug 50 bis 60 Steuergeräte und etwa 150 Millionen Zeilen Code. Das Ziel ist es, diese Geräte in nur wenigen leistungsstarken Fahrzeugcomputern zu konsolidieren. Das ermöglicht die Implementierung komplexer Algorithmen und KI-Technologien in Prozessen der Entscheidungsfindung.
Ein Blick in die Zukunft: Wie wird sich die höhere Automatisierung im Verkehrssektor auf unseren Alltag auswirken?
Ich gehe davon aus, dass die von uns entwickelten Fahrerassistenzsysteme und Lösungen für automatisiertes Fahren nur der Anfang sind. Ein Auto ist vom Prinzip her ein Roboter in einer offenen Umgebung. Wenn wir beim Automatisierungsgrad die Stufe 5 erreichen, wird sich das weit über den Mobilitätssektor hinaus auswirken. Wir können dann Maschinen entwickeln, die aktuell nur von Menschen durchführbare Aufgaben übernehmen – voll automatisiert und ohne Überwachung.
Bei der Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen mit vollständiger Automatisierung geht es nicht nur um Verbesserungen im Verkehrssektor. Vielmehr geht es um die Nutzung von KI für eine sicherere, effizientere und letztendlich eine vernetztere Welt. Unsere heutigen Fortschritte legen den Grundstein für eine Zukunft, in der Maschinen unsere Leben auf eine Art und Weise verbessern können, die wir gerade erst zu erahnen beginnen.