Der neue Algorithmus der Brillenglasentwicklung
Wie Big Data und neueste Forschungsergebnisse zu den individuellsten Brillengläsern von ZEISS führen.
Expertenbeitrag von Manuela Weinreich, globale Produktmanagerin, ZEISS Vision Care
Immer detailliertere Refraktions- und Zentrierwerte, verändertes Sehverhalten durch digitale Geräte, Fassungsformen, altersspezifische Gesichtsanatomie und Pupillengrößen, Augenalter: Ein Brillenglas zu designen, ist heute mehr denn je eine hochkomplexe Wissenschaft – und basiert auf Tausenden von Messwerten und Forschungsergebnissen. Für die neueste Version des ZEISS SmartLife Portfolios (seit 2023 verfügbar) ist es ZEISS gelungen, auf Basis dieser Datenmengen einen Algorithmus zu entwickeln, der „Big Data“ mit subjektiven und objektiven Messergebnissen vereint – und so die Grundlage für noch individuellere Brillengläser zu legen.
Optisch wirksame Brillengläser haben eine mehr als 1.000-jährige Entwicklungsgeschichte. Seitdem im 11. Jahrhundert Abu Ali al-Hasan ibn al-Haitham, kurz Alhazen, optische Wirkungen gewölbter Gläser beschrieb und Lupen schleifen ließ, stößt man im Laufe der Jahrhunderte auf unzählige Innovationen und auf Meilensteine, die Brillengläser immer besser und die Korrektionsmöglichkeiten individueller werden ließen.
Heute gibt es vier Säulen, auf denen die Entwicklung und Herstellung moderner Brillengläser bei ZEISS beruht:
- Know-how über den Sehbedarf und das Sehverhalten: Berücksichtigung des Sehverhaltens für den gewünschten Sehbedarf und des Verwendungszwecks des Brillenglases.
- Wissen über altersbedingte Sehbedürfnisse: Berücksichtigung der Sehbedürfnisse in Bezug auf anatomische und physiologische Veränderungen, Unterschiede im Lebensstil und der Habituation des Brillentragenden in Abhängigkeit von Geburtsdatum und Alter.
- Optisches Know-how über das System Linse-Auge: Berücksichtigung der Interaktion zwischen Brillenglas und Auge und deren Auswirkungen auf die Berechnung und die Herstellung von Brillengläsern für die gewünschte optische Leistung.
- Know-how zur Optimierung der Ästhetik des Brillenglases: Berücksichtigung der Wechselwirkung von dem physischen Aussehen des Brillenglases und seiner optischen Leistung.
Im Fokus stehen dabei nicht nur Gleitsichtgläser, die bekanntlich aus vielerlei Gründen die höchsten Anforderungen an die Fertigung von Brillengläsern stellen. Bereits Brillenglasdesigns für junge Menschen werden komplexer, verändern sich und müssen an unsere sich verändernden Sehgewohnheiten angepasst sein, wie die jüngste Entwicklung zeigt. Sie gilt der Prävention hochmyoper Jugendlicher, und neue Sehlösungen brechen sich derzeit Bahn. Schließlich gilt es, der „Pandemie der fortschreitenden Kurzsichtigkeit“, vor allem in China, entgegenzuwirken
Kurzum: Für die Herstellung individueller Brillengläser ist es enorm wichtig, unser Sehverhalten und auch unsere Lebensgewohnheiten immer besser zu verstehen, um dann Produkte anbieten zu können, die ein immer besseres, klareres, auch gesundes Sehen ermöglichen – und nicht mehr auf reinen Statistiken und Standard-Parametern respektive auf einem „One size fits all“ Ansatz fußen. So trivial das klingen mag, so komplex ist es. Denn die Basis neuester Sehforschung ist „Big Data“.
Noch nie standen solche Datenmengen über jedes einzelne Individuum auf dieser Welt und die besonderen Sehanforderungen ganzer Bevölkerungs- und Altersgruppen zur Verfügung wie heute. ZEISS macht sich diese Daten zunutze, strukturiert und analysiert sie, versteht das menschliche Sehen immer tiefgreifender. Damit wächst das Angebot an immer ausgefeilteren, individuelleren Brillengläsern.
Die Individualisierung eines Brillenglases: ZEISS SmartLife Individual 3
Mit der weltweiten Einführung von ZEISS SmartLife hat ZEISS 2018 ein neues Portfolio an Premium-Brillengläsern von Einstärken- über Digital- bis hin zu Gleitsichtgläsern auf den Markt gebracht. Es basiert auf zahlreichen Technologien, die alle dazu beitragen, dass ein ZEISS SmartLife Brillenglas – je nach Leistungsstufe – alles bietet, was ein modernes Brillenglas bieten muss: Refraktions- und Zentrierwerte, Berücksichtigung der Aktivitäten des Brillentragenden, Gesichtsanatomie, Fassungsform, die Einbeziehung der individuellen Gewöhnung an die Brille und der altersspezifischen Pupillendynamik und -größe.
Darüber hinaus ist es ZEISS erstmals gelungen, Daten über das tatsächliche Sehverhalten über ein gesamtes Portfolio hinweg in das Brillenglasdesign einfließen zu lassen. So ist ZEISS SmartLife beispielsweise an unseren mobilen Lebensstil angepasst, der vor allem durch die Nutzung von Smartphones und Tablets geprägt ist.
ZEISS SmartLife ist aber noch mehr: Es ist adaptiv. Bedeutet, dass immer weitere Erkenntnisse über das menschliche Sehen kontinuierlich in das Glasdesign einfließen und zu immer individuelleren Brillengläsern für alle Altersgruppen führen.
Entscheidend dabei ist, dass die Komplexität des Designs nicht zu Lasten der Partneroptikerinnen und -optiker geht. Sie haben ein verbessertes und individuelleres Produkt an der Hand – der Beratungsprozess, die Anpassung oder auch der Bestellprozess ändern sich indes nicht, es bleibt alles wie gewohnt.
Die Studienlage
Schauen wir etwas genauer auf den großen Daten-Pool, der wichtige neue Kenntnisse für ZEISS SmartLife lieferte. Über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren sammelte ZEISS mehr als zwölf Millionen Datensätze von Brillentragenden – so viele wie nie zuvor. Ausgangspunkt waren zum einen eine Online-Studie, die subjektive Daten zum Lebensstil von mehr als 300.000 Verbraucherinnen und Verbrauchern weltweit erhob, zum anderen objektiv gemessene Daten, die mit Hilfe eines Tracking-Verfahrens zum Sehverhalten ermittelt wurden. Beide Daten-Pools flossen in die ZEISS Global Vision Study von 2020/21 ein.
Das Sehverhaltenstracking fasste Millionen von objektiv gemessenen Datenpunkten aus dem täglichen Leben von mehreren hundert Menschen aus den USA, China und Deutschland zusammen. Die Studienteilnehmer stammten dabei aus verschiedenen Berufsgruppen mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen und waren im Alter zwischen 21 und 80 Jahren. Sie wurden anschließend in sechs Altersgruppen (21-30 Jahre, 31-40 Jahre, 41-50 Jahre, 51-60 Jahre, 61-70 Jahre, 71-80 Jahre) eingruppiert. Die Studie untersuchte, wie diese Menschen in ihrem Alltag sehen, welche Sehanforderungen sie bei der Arbeit, welche zu Hause oder in der Freizeit haben – und konnte so Rückschlüsse darauf zulassen, wie sich unser Sehen tatsächlich verhält.
So bestätigte sich unter anderem, dass sich die Sehanforderungen in den insgesamt sechs untersuchten Altersgruppen deutlich voneinander unterscheiden – und zwar hinsichtlich der altersbedingten Unterschiede in der Dynamik und des aktivitätsabhängigen visuellen Verhaltens. Und sie fand heraus, dass es einen Unterschied zwischen dem biologischen Alter und dem so genannten Augenalter, dem optometrischen Status des Auges (die tatsächliche Verschreibung und die Habituation des Brillenträgers), gibt.
Diese Informationen wurden zu den bereits bekannten Daten aus verschiedenen Studien über die Sehanforderungen hinzugefügt, und auf der Grundlage dieses gesamten Datenpools ein Algorithmus entwickelt, der das Sehverhalten und damit das erforderliche Brillenglasdesign für den Brillentragenden vorhersagt. Diese Annahme wird dann als Basis für das neue Design von ZEISS SmartLife übertragen.
Heutzutage ist es entscheidend, immer individuellere Daten und Parameter über die Sehbedürfnisse und das Sehverhalten von Brillenträgerinnen und Brillenträgern zu kennen und aus diesen großen und komplexen Datenmengen die Möglichkeiten für noch spezifischere Sehlösungen für den Einzelnen herauszuarbeiten und in eine Vielzahl von möglichen Zieldesigns zu übertragen. Waren es bei der ersten Generation von ZEISS SmartLife Individual noch einige hundert, so sind es bei ZEISS SmartLife Individual 3 bereits über vierzigtausend, welche als Grundlage für das finale Brillenglas dienen.
Möglich macht das der Einsatz des ZEISS Intelligence Augmented Design (IAD) Algorithmus. Er nutzt alle von Augenoptikern übermittelten Daten von Kunden, also den vorgegebenen Brillenglastyp, die individuelle Sehstärke, die Fassungsdaten und das Alter, gleicht diese Daten mit den Sehanforderungsprofilen in der Datenbank ab und wählt das optimale Designziel aus. In einem letzten Schritt werden dann alle individuellen Parameter des Kunden in einem Optimierungsprozess verwendet, um das zu fertigende Brillenglas so nah wie möglich an das optimale Zieldesign anzupassen.
Zur Veranschaulichung: Nehmen wir einen 65-jährigen Brillenträger, dem ein ZEISS SmartLife Individual 3 Gleitsichtglas angepasst werden soll. Für die Berechnung des Brillenglases benötigt der IAD-Algorithmus neben allen Auftragsparametern auch das Geburtsdatum. Diese Daten werden mit dem großen Datenpool angereichert, das biologische Alter mit dem Augenalter – basierend auf der bestellten Addition – abgeglichen und daraus das Zieldesign berechnet – mit dem Ergebnis des bestmöglichen individualisierten Sehkomforts für eben jenen 65-Jährigen. Das heißt: Auch wenn zwei Kunden unterschiedlichen Alters die gleiche Sehstärke haben, erhalten sie ein Brillenglasdesign, das durch die Berücksichtigung ihrer individuellen Sehgewohnheiten und Parameter optimal auf ihre Sehbedürfnisse abgestimmt ist.
In Zahlen ausgedrückt heißt das: Die optische Leistung der neuen ZEISS SmartLife Individual 3 Brillengläser ist mit bis zu 29 Prozent breiteren Sehbereichen besser als bei vorherigen ZEISS SmartLife Individual Brillengläsern für den benötigten Sehbedarf. Darüber hinaus bestätigen 85 Prozent der Brillenträgerinnen und Brillenträger eine ungestörte, klare Sicht in alle Entfernungen und Richtungen.
„Manche Brillenträger haben das Gefühl, dass ihnen eine Brille einfach nicht passt, können das aber nicht weiter spezifizieren. Durch den IAD-Algorithmus können wir auf Bedürfnisse eingehen, die unter Umständen gar nicht aktiv wahrgenommen werden.“
In Zahlen ausgedrückt heißt das: Die optische Leistung der neuen ZEISS SmartLife Individual 3 Brillengläser ist mit bis zu 29 Prozent breiteren Sehbereichen besser als bei vorherigen ZEISS SmartLife Individual Brillengläsern für den benötigten Sehbedarf. Darüber hinaus bestätigen 85 Prozent der Brillenträgerinnen und Brillenträger eine ungestörte, klare Sicht in alle Entfernungen und Richtungen.
Weitere Studienlagen für heutiges Sehen entscheidend
Was neben dem großen Datenpool für die neue Generation aller ZEISS SmartLife Brillengläser hinzukommt, sind neue Seh-Parameter. So hat das ZEISS Vision Science Lab an der Universität Tübingen zum Augendrehpunkt geforscht.
Seit Allvar Gullstrands Entwicklung des Augenmodells (1911) wurde ein Augendrehpunkt für alle Drehbewegungen des Auges basierend auf den Rezeptwerten benutzt. Aber die Studie zeigte, dass sich die Lage der Drehachse für vertikale Augenbewegungen deutlich von der für horizontale Bewegungen unterscheidet.
Der Ansatz des neuen ZEISS SmartLife Portfolios besteht vor allem darin, dem veränderten Sehverhalten in der heutigen smarten und vernetzten Welt Rechnung zu tragen und das immer stärker auftretende dynamische Sehen mit den vielen Blickwechseln und dem „Sehen aus dem Augenwinkel“, sprich den erhöhten Bedarf für peripheres Sehen, zu berücksichtigen. Daher sind die Erkenntnisse über die Lage der horizontalen und vertikalen Augendrehachsen besonders wertvoll, um für das blickende Auge die Abbildungsfehler beim schrägen/peripheren Blick durch das Brillenglas zu minimieren. Dies zeigen auch die Untersuchungen in unseren Labors, in denen wir entsprechende Grenzwerte für die Bestimmung der Sehbereichsgrößen ermittelt und mit den bisherigen Designs verglichen haben. So ergeben sich für die SmartLife Brillengläser der neuen Generation für den Fernbereich größere Sehbereiche als bei den bisherigen Gläsern – und für alle ZEISS SmartLife Digital- und Gleitsichtgläser für die Anwendung „Blick auf das Smartphone“ größere Sehbereiche im Vergleich zu den bisherigen SmartLife Pendants.
Fazit: Warum Brillengläser immer individueller werden müssen
In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Refraktionstechniken, die Herstellungsverfahren, die optischen Designs und die Ansprüche der Verbraucher an die Leistungsfähigkeit von Brillengläsern signifikant verändert. Die Flexibilität, Individualität und die Spontanverträglichkeit von Brillengläsern sind heute größer als je zuvor. Technologie und persönliche Bedürfnisse, Sehkomfort und Vorlieben, modische Trends, die Digitalisierung und Big Data treiben die Entwicklung weiter voran. Brillengläser sind also noch lange nicht „ausentwickelt“.