Die Geschichte des Gleitsichtglases
Der Aufstieg Europas zur Wissenschaftsmacht ab dem 13. Jahrhundert verdankt sich wesentlich der Erfindung des Korrektionsglases, das daher auch zu den zehn wichtigsten Erfindungen der Menschheit nach Rad und Feuer gezählt wird. Korrigierte Presbyope, die länger lesen, studieren, schreiben und ihr Wissen teilen können, genießen nicht allein eine höhere Lebensqualität; sie tragen weitaus stärker auch zur Entwicklung von Wissenschaft und Kultur bei als dies ältere Menschen ohne Lesebrille konnten. Moderne Gleitsichtgläser als Mittel der Wahl zur Abhilfe bei Altersfehlsicht sind das Ergebnis jahrhundertelanger Forschung, Entwicklung, Erprobung verschiedenster Lösungen. Diese dreiteilige Serie gibt Einblicke in die Entwicklung der Gleitsichtgläser.
Altes Leiden, neue Lösung?
Vom Franklin-Bifokal zum ersten Patent für bildsprungfreie multifokale Gläser
Teil 1 dieser Serie erläutert die Entwicklung der ersten Bifokalgläser bis hin zu den ersten Gleitsichtgläsern.
Ein Ausritt mit Folgen
Eine praktikable und tragbare Sehhilfe für Presbyope erfordert diverse Zutaten, die auch in Europa nur Schritt für Schritt erkannt und erforscht wurden. Kenntnis der optischen Wirkung verschiedener „Linsen“, also gekrümmter Gläser, Verständnis für ihre Tragbarkeit und vor allem die technischen Fertigkeiten zu ihrer Herstellung sind notwendig. Abu Ali al-Hasan ibn al-Haitham (Alhazen) beschrieb bereits im 11. Jahrhundert optische Wirkungen gewölbter Gläser und ließ Lupen schleifen. Die Einführung optischer Korrekturgläser – nach heutigem Verständnis wohl Leselupen – ab dem 13. Jahrhundert gilt als fünftwichtigste Erfindung der Menschheit nach Rad und Feuer (1): „Lichtbrechung mittels Glas ist eine dieser simplen Ideen, deren Umsetzung seltsamerweise sehr lange brauchte“, heißt es in der Begründung. Bereits die Römer stellten Glas her, und Seneca wusste bereits im 1. Jahrhundert um die lichtbrechende Wirkung eines mit Wasser gefüllten Glases. Aber letztendlich erhöhte die Erfindung der Brille die kollektive Intelligenz drastisch. Gründe und Folgen wurden oben bereits kurz erwähnt.
Für das alte Leiden der Altersfehlsichtigkeit konnte dies aber nur ein Teil der Lösung sein. Für das dynamische Sehen musste sie, besonders aber für den notwendigen Wechsel der Sehdistanz von nah auf fern, akzeptable Korrektionseigenschaften aufweisen. Und dafür müssen optisches Wissen, Kenntnisse der Mathematik kugeliger Oberflächen und damit Designverfahren, vor allem aber Wege der Produzierbarkeit vorliegen.
Um 1770 soll Benjamin Franklin während eines Ausrittes die Idee der bifokalen Brille gekommen sein – als Franklingläser, Executives und unter anderen Namen bis heute verkauft und damit das erfolgreichste Glasdesign aller Zeiten. Bei diesen Gläsern mit Bildsprung stellte sich die Frage nach den oben genannten Voraussetzungen schlicht nicht. Die Teilung eines Nah- und eines Fernglases und das Zusammenfügen je einer Hälfte umging Probleme, die noch bis in die 1960er Jahre bildsprungfreien multifokalen Gläsern im Wege standen.
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Eine Frage der Mathematik
2019 wird an 60 Jahre Varilux erinnert und damit an Bernard Maitenaz, dem Ingenieur hinter dem ersten kommerzialisierten Gleitsichtglas. Doch die Idee von Brillengläsern mit unterschiedlicher Brechkraft und damit bildsprungfreien Sehzonen wurde natürlich schon Jahrzehnte vorher verfolgt, lange bevor in den 1950er und 1960er Jahren das Rennen um tragbare und produzierbare Gleitsichtgläser begann. Ein Begriff übrigens, der von Ernst Lau aus Ostberlin in seinem Patent von 1963 geprägt wurde. Im selben Jahr legte Günter Minkwitz am Institut für Optik und Spektroskopie der Akademie der Wissenschaften, ebenfalls in Ost-Berlin, die mathematischen Grundlagen für Gleitsichtgläser. Scheiterte die Umsetzung in der DDR wohl vor allem an der Produzierbarkeit, verfügten frühe Pioniere nicht über die Einsichten und Möglichkeiten des heutigen Verständnisses und der rechentechnischen Möglichkeiten zur Umsetzung von optischen Designs.
Frühe Versuche für die Berechnung progressiver, monolithischer Gläser durch Henry Orford Gowlland, 1909, setzten die Mitteldicke des Glases auf Null. Der Mit-Erfinder der weltweit ersten punktuell abbildenden Brillengläser für dynamisches Sehen, Moritz von Rohr, beschrieb sie als „Wahlstärkengläser“ und verstand als Presbyopenbrille noch die Lesebrille beziehungsweise eine Fernbrille mit vorklappbarer Addition. „Den Zusatzlinsen gegenüber zeigen die Zweistärkengläser eine sehr fühlbare Einschränkung des Gesichtsfeldes für jede der beiden Gebrauchsmöglichkeiten. Das kann unter Umständen, z. B. beim Treppensteigen und beim Wandern auf schlechtem Wege, recht störend werden.“ (2) Ein Phänomen, das auch heute noch jeder Augenoptikerin, jedem Optometristen bekannt vorkommen dürfte. Doch spätestens mit Gowlland war die Idee eines progressiven Glases in der Welt.
Vergegenwärtigen wir uns den Stand des optischen Designs um 1912, des Jahres des ersten Präzisionsbrillenglases PUNKTAL, werden die Grenzen des optischen Designs und damit die Unmöglichkeit der Umsetzung Gowllands Idee deutlich. Die Schwierigkeiten adäquater Korrektur refraktiver Sehfehler für das blickende Auge mit Einstärkengläsern lassen erahnen, welche Fortschritte noch zu machen wären, bevor bildsprungfreie multifokale Gläser möglich sein würden. Die Variable zur Berechnung der optischen Korrektur bildete vor allem die Krümmung des Glases – es galt für Sammel- und Zerstreuungslinsen die jeweils optimale Durchbiegung zu berechnen. Da dies Punkt für Punkt und manuell erfolgte, ergab sich ein entsprechend hoher zeitlicher Aufwand.
So galt auch 1934 noch: „Die mit der Verminderung der Akkommodation verbundene Verschiebung des Nahpunkts macht es für Alterssichtige in der Regel notwendig, ein Brillenglas zu tragen, das als Nah- oder Presbyopenbrille bezeichnet werden soll.“ (2) Für Jahrzehnte blieben damit Gedankenspiele um das, was später Gleitsichtglas heißen sollte, vor allem mathematisch unlösbare Probleme. Gowlland hatte Rotationsparaboloide als Gleitsichtflächen verwendet, die zu seiner Zeit durchaus herstellbar gewesen wären, ähnlich wie asphärische Katral-Gläser von ZEISS für Aphakiepatienten. Ein wichtiges Patent für herstellbare, progressive, monolithische Gläser sollte 1923 erteilt werden.
Die "First lady of optics"
Ihr Werdegang war alles andere als einfach. Estelle Glancy promovierte in Astronomie an der University of California in Berkeley im Jahr 1913, musste ihre Hoffnungen, als Astronomin zu arbeiten, jedoch bald aufgeben. Edgar D. Tillyer, einer der großen Optikdesigner des 19. und 20. Jahrhunderts, entdeckte ihr Talent und brachte sie so zu American Optical (AO) nach Southbridge, Massachusetts. Ihre Erfindungen sollten bei Kameras und Fernsehbildschirmen eine große Rolle spielen. Die berühmten Tillyer-Gläser der 1920er Jahre mit verbesserten Abbildungseigenschaften bis in die Ränder beruhten vor allem auf Glancys mathematischen Berechnungen.
1924 reichte sie ihr Patent für progressive Brillengläser ein – ein halbes Jahrhundert bevor Gleitsicht als Alternative zu den bifokalen und trifokalen Varianten akzeptiert wurde. Die Anordnung der Zonen unterschiedlicher Brechkraft in konzentrischen Kreisen auf vergleichsweise großem Durchmesser erinnert an Gowlland. Ähnlich wie bei „dicken“ Gläsern auf Tragegläsern optisch „taube“ Bereiche beim Einschleifen abgeschnitten wurden, um Glasdicke und damit Ästhetik zu verbessern, sollte durch Zuschnitt der Gläser letztlich die Tragbarkeit verbessert werden. Zum ersten Mal kommen Mathematik, optisches Wissen und Know-how der Brillenglasherstellung für bildsprungfreie Multifokalgläser zusammen. Glancy-Gläser wurden in kleinen Stückzahlen auch produziert und verkauft, konnten sich angesichts der Kosten und der Untragbarkeit aber nicht durchsetzen.
Glancys Erfindung betrachtete die Optik immer nur in Meridionalschnitten, nicht über die Fläche hinweg. Gleiches gilt entsprechend für Gowlland. Praktisch bedeutete dies, dass Glancys Glas im senkrechten Schnitt unterhalb des Glasmittelpunkts nur eine konstante Krümmung aufwies, senkrecht dazu änderten sich die Krümmungen und induzierten damit ansteigenden Astigmatismus. Eine fehlerfreie Progressionszone im Sinne von Maitenaz (praktisch) oder Minkwitz (theoretisch) war damit nicht gegeben.
Prominentes Beispiel dieser notwendigen Phase der Akzeptanz: John F. Kennedy, 35. Präsident der Vereinigten Staaten. Die Kennedys mit ihrer Vorliebe für Moden trugen viel zur Verbreitung von Sonnenbrillen bei, bestellten zum Beispiel noch im Sommer 1963 Sonnenbrillen für die beiden Kinder (mit pflaumenblauen Linsen ohne optische Wirkung). Doch JFK behalf sich mit einer Lesebrille und vermied das Tragen einer Brille in der Öffentlichkeit. Während der Refraktion anlässlich des jährlichen Gesundheitschecks wurde ihm eine neue Lesebrille verschrieben und eine "Executive" bifokal (mit Addition +1.00 und plano im Fernbereich) gezeigt – ein Tillyer-Glancy-Design. Wenige Tage später ließ er drei Paar dieser Brillen bestellen. Tragischerweise fiel John F. Kennedy in Dallas einem Attentat zum Opfer - an dem Tag, an dem die Executives geliefert wurden.
Unabhängig von der Wahl bifokaler Gläser mit Bildsprung, die seiner Zeit dem populären Geschmack entsprach, illustriert dieses Geschichte ein Hürde für die Verbreitung von Gleitsichtgläsern bis heute, die nicht zu unterschätzen ist: die emotionale Akzeptanz durch die Presbyopen.Fotos: Estelle Glancy und John F. Kennedy, 1958 in Southbridge, mit freundlicher Genehmigung Optical Heritage Museum, Southbridge, Massachusetts.
Eine Idee wird Wirklichkeit
Der Wettlauf um die ersten kommerziellen Gleitsichtgläser
Im ersten Teil wurde geschildert, wie lange die Idee eines Brillenglases mit „gleitender Dioptrienzahl“ bereits zirkulierte, aber auch, dass bis weit ins 20. Jahrhundert Bifokalgläser das Mittel der Wahl für Presbyope blieben. Denn für tragbare Progressionsgläser waren und sind Innovationen auf drei Gebieten notwendig: optisches Design, Fertigung und Akzeptanz durch Brillenträger. In den 1950er Jahren beginnt der Wettlauf um das erste Gleitsichtglas erneut – diesmal zwischen Paris und Ostberlin.
2019 werden 60 Jahre „Varilux“ - das erste kommerziell erfolgreiche Gleitsichtglas - gefeiert. Bernhard Maitenaz, von Haus aus Ingenieur, hatte zu recht von Beginn an die Fertigungsverfahren mitbedacht, als er seine Idee eines Glases entwickelte, das gleitendes Sehen in allen Entfernungen ermöglichte. Die 1950er und 1960er Jahre sind damit die Zeit, in der, anfangs noch kommerziell unterschätzt, Gleitsichtgläser design-, kalkulier- und herstellbar wurden. Kontinuierliche Verbesserungen und Durchbrüche wie die Horizontalsymmetrie für wesentlich verbesserte Tragbarkeit prägen die Entwicklungen bis in die 1980er Jahre.
Maitenaz‘ Motivation, eine überlegene Alternative zu Bifokalen zu schaffen, teilten auch Wissenschaftler in Ostberlin. Und so arbeiten ein Ingenieur an der Seine wie Physiker und Mathematiker an der Spree an der Lösung der drei mit progressiven Gläsern verbundenen Problemfelder. Anhand eines typischen Beispiels aus den 1950er Jahren lässt sich vielleicht ersehen, warum es eben kein Optiker wie Owen Aves (1907) oder keine Optikdesignerin wie Estelle Glancy (1924) waren, denen letztlich der Durchbruch gelang.
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Gleitsichtglas und Minkwitz-Theorem
Anlässlich des Kongresses der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft 1956 kontaktierte ein Leipziger Augenoptiker ZEISS in Jena und in Oberkochen, aber auch Rodenstock in München mit seiner Idee für „Brillengläser mit gleitender Dioptrienzahl“. Richtig erkennt er, dass sein Glas mit unterem sphärischen Nahteil und gleitenden Radien zum oberen asphärischen Fernteil an „unzureichenden Fertigungsmitteln“ scheitern könne. Interessanter sind die Ablehnungsgründe der deutschen Glashersteller. Man ist sich sicher, dass die „grundsätzlichen Nachteile solcher Gläser“, sprich Astigmatismus, nicht behoben werden könnten. Vor allem aber sei der Vorteil für Brillenträger „mehr als zweifelhaft.“ Der ungebrochene Erfolg von Gleitsichtgläsern seit Einführung von Varilux sollte indes hinsichtlich des Kundenbedarfs alle Hersteller eines Besseren belehren.
Die Frage des Astigmatismus löste eine Ostberliner Gruppe, die ebenfalls an „unzureichenden Fertigungsmitteln“ der volkseigenen Industrie der DDR scheitern sollte.Am Institut für Optik und Spektoskopie der Deutschen Akademie der Wissenschaften begannen 1953 Ernst Lau und Rolf Riekher, unzufrieden mit Bifokalgläsern, mit der Arbeit an „Brillengläsern mit gleitender Dioptriezahl“. Mit rotationssymmetrischen asphärischen Gläsern, die thermisch hergestellt wurden, konnten sie Testpersonen überzeugen. Die Herstellung in Jena wurde nichtsdestotrotz später aufgegeben. Ihr Patent von 1959 verwendete erstmals „gleitende Dioptriezahl“ anstelle von multifokal zur Bezeichnung dieser neuen Art von Gläsern.
Eine Konsequenz aus dem “Satz von Minkwitz” ist, dass der maximale Astigmatismus im Glas proportional zur Addition zunimmt. Die praktische Folge, die Addition so gering wie möglich zu wählen, kennt jede Augenoptikerin, jeder Augenoptiker.
Zweite Folgerung von Minkwitz ist, dass kürzere Progressionskorridore größeren Astigmatismus beziehungsweise kleinere Sehzonen bedingen. Kurze Progressionslängen – gerade für schmalere Brillenfassungen, sollten die Optikdesigner noch vor Herausforderungen stellen. Diese Astigmatismusdarstellungen wurden übrigens erstmals in den 1970er Jahren in den USA eingesetzt, da dort vergleichende Werbung erlaubt war und neue Designs entsprechend im Vergleich zu Konkurrenzprodukten promotet wurden.
Symmetrische vs. Asymmetrische Gleitsichtgläser
Die 1983 von ZEISS eingeführten Gradal HS Gläser boten erstmals die sogenannte Horizontalsymmetrie, für deren Berechnung und Fertigung die notwendige asymmetrische Vorgehensweise angewendet wurde. Erstmals wurden rechtes und linkes Glas separat und damit unterschiedlich berechnet, um die Sehzonen bei binokularem Sehen horizontalsymmetrisch zu bieten. Mit dieser optimierten Korrektur für beide Augen in allen Blickrichtungen steigt die Verträglichkeit deutlich.
Die Innovationsgeschichte bei Gleitsichtgläsern hatte erst begonnen
Mit der Lösung der fundamentalen Herausforderungen in Design und Herstellung sowie bei der Popularisierung von Gleitsichtgläsern als Sehkorrektion erster Wahl für Presbyope hatte ein „altes Leiden“ eine zeitgemäße Antwort gefunden. Die augenoptische Industrie hatte wieder einmal eindrucksvoll ein Vorurteil widerlegt, das seit den 1920er Jahren gehegt wurde: dass Brillengläser „ausentwickelt“ und bahnbrechende Fortschritte nicht mehr zu erwarten seien.
Der Einsatz von Computern, die Digitalisierung der Wertschöpfungsketten, besonders in der Fertigung mit dem Einzug der Freiformtechnologie, sollten in den nächsten Jahrzehnten zu zahlreichen Innovationen auch bei Gleitsichtgläsern führen. Vor allem werden ab Ende der 1990er Jahre individualisierte Gläser, funktionale Zusatznutzen und eine Fülle an Optionen den Gleitsichtglasmarkt prägen. Damit gehen Vorteile für Brillenträger einher, die für Maitenaz, Lau und andere Designer der 1950er bis 1980er Jahre nicht erreichbar waren. Und: Innovationszyklen werden sich mit der Digitalisierung drastisch verkürzen. Konnte die Geschichte von Präzisions- und Gleitsichtgläsern der ersten 90 Jahre in Zehn-Jahres-Schritten erzählt werden, folgen die Neuerungen, Erfindungen und Durchbrüche nach 2000 in deutlich kürzeren Abständen.
Die Fülle der Möglichkeiten
Die ersten beiden Teile dieses Artikels verfolgten die Jahrzehnte währende Suche nach optisch und fertigungstechnisch praktikablen Brillengläsern für Alterssichtige - bis hin zum Durchbruch mit Varilux, den Fortschritten für höheren Komfort und einfache Adaption und der kommerziellen Dominanz von Gleitsichtgläsern im Markt für Presbyopen-Brillen. Der Dreiklang der grundsätzlichen Herausforderungen in diesem Segment prägt auch die Entwicklungen im 21. Jahrhundert: Erst mit neuem optischen Design, bahnbrechenden Herstellungsverfahren und Innovationen für überlegenen Verbrauchernutzen entstehen erfolgreiche Gleitsichtgläser.
Nach Einführung der Horizontalsymmetrie im Design von Gleitsichtgläsern werden regelmäßig Neuerungen vorgestellt. So folgen seit den späten 1980er Jahren etwa Designs mit kurzer Progressionslänge, mit denen auf veränderte Vorlieben bei Brillenfassungen reagiert wurde.
Das neue Jahrtausend beginnt mit einem Epochenwechsel in der Kalkulation und Fertigung von Rezeptgläsern: eine neue Fertigungstechnologie löst nach 200 Jahren die konventionelle Fertigung mit Schleifspindeln und Polierschalen ab. Die fundamentale Innovation, die besonders die Entwicklung der Gleitsichtgläser nachhaltig verändert, ist die Einführung der Freiformtechnologie seit 2000. Damit verbunden sind Effizienzgewinne der Fertigung, vor allem aber eröffnet sich die Möglichkeit der Individualisierung von Glasdesigns und damit Brillengläsern. Augenoptiker können ihren Kunden für ein natürliches, individuell optimales Sehen jetzt mehr bieten, als lediglich ein passendes Glas auf Basis der objektiven und subjektiven Refraktionswerte sowie des Einsatzgebietes zu empfehlen. Mit der Freiformtechnologie lassen sich Einstärken- und Gleitsichtgläser maßschneidern. Das hat Auswirkungen auf alle relevanten Aspekte der augenoptischen Praxis: Seh-Analyse, Refraktion, Beratung, Verträglichkeit, Verbrauchernutzen – und eröffnet eine Fülle der Möglichkeiten.
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Mit Freiform flexibler, individueller, modischer
Zur Bewertung dieser technologischen Revolution ist es wichtig zu wissen, dass damit ein Paradigmenwechsel verbunden ist. Bei allen Glasdesigns gingen die Hersteller davon aus, das Glas optisch zu perfektionieren, Astigmatismus zu reduzieren, Sehzonen zu verbreitern und an Anwendungen beziehungsweise Fassungsmoden anzupassen.
Mit Freiform wird der Prozess gleichsam vom Kopf auf die Füsse gestellt. Bestimmend ist nicht mehr das Design, sondern der Punkt für Punkt kalkulierte Korrektionsbedarf des Brillenträgers. Am Anfang steht jetzt die individuelle Rezeptverschreibung, welche mit einem Glasdesign kombiniert wird. Das Design wird so individuell angepasst, die für die Fertigung notwendigen Daten werden pro Glas gerechnet. Wenn heute bei „Industrie 4.0“ mit Losgröße 1 in der Fertigung kalkuliert wird, so gilt dies in der modernen Rezeptfertigung bereits seit zwanzig Jahren.
Darüber hinaus limitierte die Verfügbarkeit von Schleif- und Polierwerkzeugen das Angebot an Glasdesigns. Für ein neues Glasportfolio waren nicht nur hunderte bzw. tausende Gläser zu berechnen, sondern auch die Werkzeuge herzustellen, deren Zahl schnell in die Zehntausende gehen konnte. Entsprechend viel Zeit nahmen die Vorbereitung, das Design und die Werkzeugherstellung bei neuen Glastypen in Anspruch. Bei Freiformgläsern sind vor allem die Optikdesigner, Technologen und IT-Experten gefragt, um Innovationen in die Produktion überführen zu können. Mit der Freiformtechnologie werden damit Innovationszyklen signifikant beschleunigt – eine Tatsache, die sich etwa an den regelmäßigen Ankündigungen neuer Gleitsichtgläser durch die Hersteller ablesen lässt.
In den vergangenen zehn Jahren haben sich Refraktionstechniken, Herstellungsverfahren, optische Designs, aber auch Ansprüche der Verbraucher an die Leistungsfähigkeit von Brillengläsern signifikant verändert. Die Flexibilität, Individualität und die Spontanverträglichkeit von Brillengläsern sind heute so groß wie nie zuvor. Technologie und persönliche Bedürfnisse, Sehkomfort und Vorlieben, modische Trends und die Digitalisierung treiben die Entwicklung voran.
Ansprüche an Optiker steigen
Es sei an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber erwähnt, kann aber aus Platzgründen nicht angemessen ausgeführt werden: Der Erfolg moderner Freiformgleitsichtgläser hängt entscheidend von der Professionalität des Augenoptikers ab. Der Service des Augenoptikers ist für passende und individuell optimale Gleitsichtbrillen unverzichtbar.
Beispielhaft seien erwähnt: Die Datenerfassung mittels Anamnese sowie die objektive und subjektive Refraktion liefern die Basis für die individuell kalkulierten Gläser. Da Freiformrechnungen ohne Parameter zu Sitz des Glases und der Fassung nicht denkbar sind, ist die digitale Zentrierdatenerfassung heute Goldstandard. Und natürlich ist besondere Sorgfalt bei Fassungsberatung für den Kunden sowie beim Einschleifen notwendig.