Wie können wir zukünftig unsere Medizinprodukte nachhaltig entwickeln?

Ein externer Impuls basierend auf der Doktorarbeit von Diana Mitsch

Die Erwartungshaltung gegenüber Produkten hat sich verändern: Menschen wünschen sich mehr Transparenz über Entwicklung, Produktion und Vertriebswege – egal ob es sich um Konsumgüter wie Lebensmittel und Modeartikel oder um Investitionsgüter wie Fahrzeuge oder Medizintechnik handelt. Die Initiative zu „Green Product Design“, die im Rahmen des ZEISS Key Group Program „Sustainability“ gestartet wurde, zeigt, dass auch wir Medizintechnik zukünftig nachhaltig entwickeln wollen. ZOOM MED sucht nach einem externen Impuls.

Der Ausgangspunkt für nachhaltiges Produktdesign

Merkmale nachhaltiger Produkte

Beim Design nachhaltiger Produkte spielen ökologische wie soziale und ökonomische Kriterien eine Rolle, aus denen sich ein komplexes Geflecht an nachhaltigkeitsrelevanten Anforderungen ergibt. Von Rohstoff-, Material und Komponentenbeschaffung über die Produktion und Nutzung bis hin zum Lebensende – Aspekte der Nachhaltigkeit betreffen alle Lebensphasen eines Produktes.

Herausforderung für Medizintechnikunternehmen

Die Einhaltung von Richtlinien, gesetzlichen Vorgaben und Konformitätsanforderungen haben beim Design von Medizintechnik oberste Priorität. Im Hinblick auf die Produktdefinition spielen nicht zuletzt (internationale) Vergütungssystem eine wichtige Rolle. Den Richtlinien und Vorgaben stehen nicht selten politische Forderungen als auch gesellschaftliche Ansprüche konträr gegenüber. „Medizinprodukte werden nicht aus Gründen des Umweltschutzes hergestellt, sondern zur möglichst frühen, schnellen und präzisen Diagnose oder Therapie von Krankheiten und Unfallschäden.“1

Nachhaltiges Life Cycle Management für Medizinprodukte

Nachhaltigkeitsanforderungen im Produktdesign zu berücksichtigen ist eine höchst komplexe Aufgabe, die vielschichtige Kenntnisse bedingt und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit voraussetzt. Mitsch formuliert hierzu Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Lebenszyklusmanagement, die Analysen produktbezogener Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitsaspekte und deren Auswirkungen für das gesamte Produktleben ermöglichen – Life Cycle Assesment (LCA) from cradle-to-grave. Mitsch fordert, dass zu den Teams, die sich mit der spezifischen Produktdefinition befassen, stets ein Experte für Umweltanforderungen gehören sollte.2

Produkte im Kontext der Nachhaltigkeit

Ökologisch-nachhaltige Produkte

Jeder kennt den Begriff des ökologischen Fußabdrucks, den wir hinterlassen. Die Natur liefert uns zum einen Rohstoffe, zugleich übernimmt sie aber auch Senkenfunktion als Deponie für Emission, Abwässer und Abfälle. Ökologisch-nachhaltiger sind unsere Produkte, je konsequenter wir über Verminderung des Ressourceneinsatzes, Schadstoffausstoßes, Wiederverwendungs- und Verwertungsprozesse nachdenken. Mitsch zeigt, dass zum Thema Ökodesign zahlreiche Werkzeuge zur Verfügung stehen, die Analysen dazu im Produktlebenszyklus jedoch spät erfolgen und bereits am Beginn der Lebensphase etabliert werden sollten.

Sozial-nachhaltige Produkte

Medizintechnik unterstützt die Früherkennung, die Diagnostik und Therapie von Krankheiten und leistet damit einen Beitrag zur Gesundheitsversorgung – ein Kriterium sozialer Nachhaltigkeit, das Genesene zudem in die Lage versetzt, wieder am gesellschaftlichen Alltag teilzunehmen und zum Bruttosozialprodukt beizutragen. Mitsch spezifiziert das Kriterium dahingehend, dass ein einzelnes System und dessen weitreichende Funktionalität das Gesundheitswesen nachhaltig prägen kann (hier sei an ZEISS Goldstandards gedacht). Darüber hinaus empfiehlt sie eine transparente Kommunikation (etwa in Broschüren) zum Produktdesign (Herstellungsbedingungen, Hintergrundinformationen), denn das stärkt das Vertrauen der Kund*innen in ein Produkt.

Ökonomisch-nachhaltige Produkte

Um ökonomisch zu wirtschaften sollten Unternehmen mit Systemen möglichst lang im Markt sein bei gleichzeitig langem Produktlebenszyklus. Genau dafür stehen ZEISS Produkte, wie Lauric Weber im ZOOM MED Interview betont. Ökonomisch nachhaltige Produkte definieren sich für Mitsch zudem über die mit ihnen verbundenen Risiken: Stellfaktoren gegen langfristige Umwelt- und Imageschäden müssen im frühen Stadium des Lebenszyklus formuliert werden. Ein weiteres Kriterium ist die Verfügbarkeit eines Produktes für eine breite Käuferschicht, die der weltweiten medizinischen Grundversorgung begegnet. Neben den von Mitsch genannten modularen Aufbau von Systemen (ZEISS Katarakt-Workflow) können auch Softwareupdates, Konnektivität und das Angebot von Basismodellen (z. Bsp. ZEISS TIVATO Essential) in die ökonomische Nachhaltigkeit einzahlen.

Indikatoren und Bewertungsschemata für nachhaltige Produkte nach Mitsch

Rahmen für ein Model nachhaltigen Produktdesigns:

Die Arbeit von Mitsch zeigt, dass bereits etablierte Modelle für die Analyse nachhaltigen Produktdesigns oft jeweils nur ein Merkmal für Nachhaltigkeit untersuchen und die zur Verfügung stehenden Werkzeuge zudem Lücken aufweisen. Vor allem für die Implementierung des Ökodesigns gibt es detaillierte Analysewerkzeuge, die Mitsch einen gewissen Rahmen eröffnen [ISO 14040] in den sie ökonomische und soziale Aspekte integriert. Die spezifischen Anforderungen an die Entwicklung nachhaltiger Medizinprodukte resultieren nach Mitsch aus der Makro-Umwelt [siehe Abbildung rechts].

Anforderungen aus der Makro-Umwelt an die Entwicklung von Medizinprodukten (Grafik nach Mitsch 2018, Abb. 40, S. 205)

Umgang mit Informationsdefiziten:

Als unsichere Faktoren gelten Informationsdefizite, die vor allem eine Bewertung nachhaltiger Aspekte in der frühen Definitionsphase eines Produktes erschweren. Mitsch plädiert hier, auf verfügbare Erfahrungswerte bzw. Informationen aus öffentlichen Datenbanken zurückzugreifen und schlägt zudem die Anwendung der Environmental Due Diligence Methode vor, die von allen Akteuren entlang des Produktlebens sorgfältige Handlungsweisen verlangt. Due Diligence unterstützt eine präventive Vorgehensweise zur systematischen Abschätzung von Risiken und folgt Checklisten, die nach Mitsch für die Produktdefinition folgende Kriterien abklopfen sollten:4

  • Bestehende und zukünftige rechtliche Beschränkungen (Restriktionen von Produktinhaltsstoffen), Anforderung zur Produktzulassung
  • Anforderungen durch Wettbewerb und Markt
  • Etablierung sonstiger (freiwilliger) Verpflichtungen, wie etwa erweiterte Rücknahmekonzepte oder Ökolabels

Befragungen als Erhebungsmethoden:

Für die Erhebung potenziell nachhaltigkeitsrelevanter Auswirkungen einzelner Produkteigenschaften ist eine wiederholte Datenerhebung während der Produktentwicklung unabdingbar. Mitsch schlägt hier die Anwendung standardisierter, quantitativer Fragebögen vor, wobei auch offene Fragen zugelassen sind. In der frühen Phase der Produktentwicklung – der sogenannten fuzzy front end of innovation – werden diese von den Experten selbst, also dem Produktdefinitionsteam beantwortet. In den späteren Entwicklungsphasen werden dieselben Fragen dann auch Nicht-Experten (Kund*innen) gestellt. Die wiederholte Datenerhebung über einen längeren Untersuchungszeitraum lässt letztlich einen Vergleich der Ergebnisse zu.5

Risikoanalyse:

Risikomanagementprozesse sind für Mitsch ein weiterer Hebel, bestehende Informationsdefizite zu minimieren. Anwendung finden sie bei Mitsch konkret für die Erhebung von Daten zur Ressourcenverfügbarkeit bzw. Ressourcenknappheit. Ziel sollte eine objektive Betrachtung der Generationengerechtigkeit sein, etwaige Folgen also nicht auf geografische Regionen verschoben oder auf Kosten zukünftiger Generationen abgewälzt werden. Die Bewertungskriterien sollten ökologische (Umweltrisiken), ökonomische (strategischer Einsatz) und soziale (politisches Risiko) berücksichtigt werden.6

Konkrete Indikatoren für Medizinprodukte:

Mitsch bestimmt branchenspezifische Indikatoren für produktbezogene Nachhaltigkeit, die sie für Medizinprodukte im Rahmen der Makro-Umwelt konkretisiert und spezifische Messgrößen zuordnet. Sie bilden für Mitsch die Basis für mögliche Berwertungsschemata und können als Hebel für Analysen zu nachhaltigen Produktdesign verstanden werden, die bereits am Beginn des Produktlebens und in die einzelnen Produktlebensphasen integriert werden sollten:7

FORMEL:

Produktbezogene Nachhaltigkeitsanalyse = Life Cycle Assesment + Risikoanalyse + quantitative Befragung

Branchenspezifische, generische Indikatoren für eine produktbezogene Nachhaltigkeitsanalyse (Grafik nach Mitsch 2018, Abb. 39, S. 204)
  • Umweltauswirkungen Bsp. Produktinhaltsstoffe, deren Wirkungsabschätzung durch die von Mitsch entwickelte Risikoanalyse erfolgen kann
  • Innovationsgrad Bsp. Erfassung der Suffizienz des Produkts im Sinne der Reimbursement capability und damit der Möglichkeit der Abrechnung des Einsatzes eines Produkts über Patienten und Krankenkassen (quantitativer Fragebogen für Produktexpertenteam und Anwendende)
  • Die Systemfunktionalität ist stark von den Anwendenden abhängig. Mittels offener Frage kann etwa nach der von Anwendern bevorzugten diagnostischen Bildgebung (Farbig oder schwarz-weiß) gefragt werden.
  • Externe Kommunikation soll Auskunft über wahrgenommenes Image bei der Nutzung ermöglichen und den Umgang mit dem Produkt am Lebensende aufzeigen (quantitativer Fragebogen für Produktexpertenteam und Anwendende)
  • Für den Indikator interne Kommunikation nennt Mitsch keine spezifischen Messgrößen, stellt aber ein eigens aufgesetztes Prozessmodel zur Verfügung.8
  • 1 Die Aussagen und Grafiken dieser Seite basieren auf der Arbeit von Diana Mitsch: Das Design nachhaltiger Medizinprodukte, Wiesbaden 2018 (hier S. 9).
  • 2 Vgl. Mitsch 2018, S. 56f.
  • 3 Vgl. Mitsch 2018, S. 184, 187f und 222f.
  • 4 Vgl. Mitsch 2018, S. 187f.
  • 5 Vgl. Mitsch 2018, S. 189ff.
  • 6 Vgl. Mitsch 2018, S. 196ff.
  • 7 Vgl. Mitsch 2018, S. 207ff.
  • 8 Vgl. Mitsch 2018, Praxistest ab S. 232.